Die Allgemeinmedizin ist überzeugt, dass sich nur durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von universitätsmedizinischer Forschung und hausärztlicher Praxis künftige Herausforderungen stemmen lassen. Ein Netzwerk von Forschungspraxen bietet die Plattform für Studien.

Die Betreuung von Patientinnen und Patienten vor und nach Klinikaufenthalten gehört zum Alltag in Hausarztpraxen. Ob diese ihre Tabletten zu Hause tatsächlich weiternehmen und mit welchen Interventionen sie auch im Alltag gut klarkommen, haben Hausärztinnen und Hausärzte besser im Blick als Klinikärzte. Ihre Untersuchungsergebnisse und das Langzeitoutcome sind für die Bewertung von medizinischen Interventionen entscheidend. Trotzdem galten Allgemeinmedizin und hausärztliche Praxen sowie medizinische Forschung über lange Zeit für viele als „zwei verschiedene Paar Schuhe“.
Inzwischen hat sich das deutlich geändert: „Die Forschungsaktivitäten in der Allgemeinmedizin nehmen an den universitären Standorten kontinuierlich zu“, sagt Prof. Dr. med. Ildikó Gágyor, Sprecherin der Sektion Forschung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). Das betreffe nicht nur die Anzahl der drittmittelgeförderten Projekte, sondern auch den Grad der Vernetzung innerhalb sowie auch außerhalb Deutschlands.
Für den Nachwuchs böten sich jetzt beinahe an allen Standorten attraktive Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Mitarbeit in der Allgemeinmedizin, so die Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Würzburg . „Das macht es – in Kombination mit den vielerorts entstehenden universitären Weiterbildungsmöglichkeiten für Allgemeinmedizin – auch attraktiv für einen akademischen Karriereweg. Das merken wir auch an den eingehenden Anfragen und Bewerbungen.“
Evidenzgenerierung in der Praxis
Einen Schub habe der Forschung in der Allgemeinmedizin zudem die Initiative Deutscher Forschungspraxennetze (DESAM-ForNet) gegeben. „Das Projekt ermöglicht eine bundesweite Vernetzung der allgemeinmedizinischen Institute und bietet damit eine hervorragende Plattform für komplexere nationale und internationale Studien“, so Gágyor.
DESAM-ForNet startete 2020 als Förderprojekt des Bundesforschungsministeriums (BMBF) mit 23 allgemeinmedizinischen Universitätsstandorten in sechs Forschungspraxennetzen. 2022 wurde die Initiative für die gesamte universitäre Allgemeinmedizin geöffnet, sodass sich noch neun weitere Standorte einbringen konnten. Als gemeinsames Projekt der Deutschen Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DESAM) und der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. (TMF) unterstützt eine Koordinierungsstelle in Berlin die Zusammenarbeit und die Harmonisierung von Standards – beispielsweise im Bereich der Partizipation, der Qualifizierung von Forschungspraxen und bei der IT-Infrastruktur. Letztere gilt als das „Herzstück“ der Initiative (siehe folgender Beitrag).
2025 läuft die Förderperiode aus. Doch DESAM-ForNet ist gekommen, um zu bleiben. „Knapp 1 400 Praxen konnten in den Netzen der Initiative schon für die Forschung gewonnen werden. 120 Studien laufen dort bereits“, erklärt Dr. med. Leonor Heinz, Leiterin der Koordinierungsstelle in Berlin, dem DÄ. Die vielfältigen Studien sollen es insbesondere ermöglichen, Fragen zum konkreten Nutzen medizinischer Interventionen unter Alltagsbedingungen zu beantworten und Erkenntnisse aus der Patientenversorgung in die Wissenschaft einzubringen. Es gelte das Prinzip „aus der Praxis für die Praxis“, so Heinz.
Werkzeuge für das ambulante Setting
Dies ist der Ärztin zufolge jedoch durchaus nicht trivial, denn die Forschungs muss mit dem Versorgungsalltag in den Praxen vereinbar sein. Hausärztliche Forschungspraxen benötigten daher spezifische Partizipations- und Qualifizierungsformate. „Es ist IT-Infrastruktur erforderlich, die die Datenübertragung zwischen Universität und Forschungspraxis ermöglicht“, so Heinz. Zudem seien im Niedrigprävalenzbereich häufig andere Studiendesigns sinnvoll, beispielsweise ein langes Follow-up, ein Head-to-Head-Design oder komplexe Interventionen. „Die Spezifika des ambulanten Settings, wie Patientenspektrum, Praxisabläufe, Dokumentation in Praxisverwaltungssystemen, Modalitäten der Datenverarbeitung, Vergütungssystematiken, sind bei der Konzeption von Forschungsprojekten unbedingt von Anfang an zu berücksichtigen und einzukalkulieren“, betont sie.
Eine Anpassung der Rahmenbedingungen sei entscheidend, sodass Studien als Bestandteil der Versorgungsforschung niedrigschwellig durchführbar seien und Formate wie Comparative Effectiveness Trials, pragmatisch randomisiert-kontrollierte Studien und Decentralised Clinical Trials besser umgesetzt werden könnten. Im Gegenzug eröffne die klinische Forschung mit Einbindung des ambulanten Sektors enorme Möglichkeiten, so Heinz, beispielsweise hinsichtlich Rekrutierung, Validität, Generalisierbarkeit, Diagnose- und Schweregradspektrum.
Angesichts des Erreichten und künftig Möglichen schaut die Initiative Deutscher Forschungspraxennetze optimistisch in die Zukunft und hofft auf eine weitere Förderperiode. Beim Symposium „Gemeinsam forschen für Gesundheit – Universitätsmedizin in Klinik und Praxis“ Ende November zog sie eine positive Bilanz. „Wir sind stolz und glücklich über Erreichtes“, sagte Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, Vorsitzender der Deutschen Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Mit DESAM-ForNet seien die Weichen richtig gestellt.
Kooperation mit dem NUM
„Wir bohren dicke Bretter, und dies geht nur gemeinsam“, betonte auch Prof. Dr. med. Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin auf dem Symposium. Sowohl vor den Forschungspraxen als auch der Universitätsmedizin lägen in den nächsten Jahren große Aufgaben.
Und die wollen sie im Schulterschluss angehen. Denn einbringen können sich die Forschungspraxennetze in der Allgemeinmedizin auch im Netzwerk Universitätsmedizin (NUM). Dieses war ad hoc in der Pandemiesituation im April 2020 – also relativ zeitgleich mit dem DESAM-ForNet – als vom Bund gefördertes Kooperationsprojekt der deutschen Universitätskliniken zur COVID-19-Forschung entstanden. Das BMBF stellte dafür zunächst 150 Millionen Euro und ab 2022 in einer zweiten Förderperiode 240 Millionen Euro bereit. Auch das NUM hofft nun auf Verstetigung, zumal sich seitdem die Zusammenarbeit und das Kooperationsverständnis in der Universitätsmedizin maßgeblich verändert haben. Viele sprechen gar von einem Kulturwandel. Denn erstmalig arbeiten Ärztinnen und Ärzte sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller 36 Standorte der Universitätsmedizin in einer übergreifenden Plattform in interdisziplinären klinischen Forschungsprojekten zusammen.
Auch die Allgemeinmedizin und die Forschungspraxen seien mit einer Arbeitsgruppe bereits im NUM vertreten, berichtet Gágyor, die als Lehrstuhlinhaberin an der Universität Würzburg das Bayerische Forschungsnetz in der Allgemeinmedizin leitet. „Eine Verzahnung von NUM und DESAM-ForNet halten wir für eine sehr gute Chance, um nachhaltig sektorenübergreifende Forschung zu ermöglichen und damit die Forschung in der ambulanten Versorgung besser sichtbar zu machen“, betont sie gegenüber dem DÄ.
Großes Interesse an einer verstärkten Kooperation zeigt auch das NUM. „Beide Projekte ergänzen sich und können voneinander profitieren“, sagte Ralf Heyder, Leiter der Koordinierungsstelle des NUM, beim DESAM-ForNet-Symposium in Berlin. Beide Initiativen wären „die geborenen Partner“. Konkret könne unter der Federführung von DESAM-ForNet die Forschungsinfrastruktur im NUM um den ambulanten Sektor ergänzt werden, meinte Heyder. Es sei möglich, gemeinsam neue Konzepte umzusetzen, wenn man sich auf gemeinsame Ziele verständige. „Wir wollen keine Datensilos“, betonte er. Zudem könnte die Qualität der Forschungsergebnisse verbessert werden. Denn momentan bestünde in der universitätsmedizinischen Forschung häufig ein Bias, da Daten hauptsächlich aus dem Bereich der spezialisierten Versorgung stammten. „Dieser Bias kann durch die Kooperation mit den Forschungspraxen reduziert und die Versorgung verbessert werden“, ist Heyder überzeugt.
Breite und aktive Beteiligung nötig
„Unser Ziel ist die Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung“, stellte Prof. Dr. med. Jutta Bleidorn, Mitglied im DESAM-Stiftungsvorstand, klar. „Dafür braucht es eine wissenschaftliche und zugleich praxisorientierte Fundierung durch Daten und Studien aus der täglichen Versorgungspraxis.“ Sie lenkte aber auch das Augenmerk auf die Qualifizierungsbedarfe von Mitarbeitenden in hausärztlichen Forschungspraxen und die aktive Beteiligung von Patientinnen und Patienten. „Wichtig ist auch, sie partizipativ mit einzubeziehen, ebenso wie das ganze Team in der Hausarztpraxis. Nur so kann Forschung nachhaltig wirken.“
Voraussetzung dafür sei der nachhaltige Ausbau der Daten-Infrastruktur im ambulanten Bereich. Die Vernetzung von Studiendaten und Routinedaten sei angesichts der verschiedenen Praxisverwaltungssysteme (PVS) nicht trivial, erklärte Bleidorn. Doch: „Die Universitätsmedizin braucht den Blick in die ambulante Versorgung. Forschende Praxen sollten künftig ein selbstverständlicher Teil der Forschung werden“, forderte sie.
Die Bereitschaft der Hausärztinnen und Hausärzte, sich in der Forschung zu engagieren, sei da, bekräftigte Dr. med. Markus Beyer, Bundesvorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands. „Wir sind froh, dass wir als Hausärztinnen und Hausärzte die Hinterzimmer der Forschung verlassen haben“, sagte er. Es sei wichtig, dass der Blick der Forschung und der Fokus von Studien auf die Praxisrelevanz gerichtet seien.
Bei der Datennutzung aus den hausärztlichen Praxen dürfte jedoch nicht vergessen werden, dass die Hausärzte nicht nur die „Bereitsteller“ dieser Daten seien, betonte Dr. med. Til Uebel von der Hausärztlichen Gemeinschaftspraxis in Kleingemünd und Ittlingen. „Hausärztinnen und Hausärzte haben einen anderen Blick auf ihre Klientel und auf die Forschung“, betonte er beim Symposium in Berlin. Sie könnten andere und besonders praxisrelevante Aspekte in die Forschung einbringen. Allerdings sei es nicht immer einfach, die Forschung in den hausärztlichen Alltag zu integrieren. „Das kostet Zeit und das braucht Wertschätzung“, betonte Uebel.
Wie also ist die Perspektive für die allgemeinmedizinische Forschungsinfrastruktur? Mittlerweile bietet DESAM-ForNet der forschenden Allgemeinmedizin eine verlässliche Struktur für den kontinuierlichen Austausch und die Entwicklung gemeinsamer Positionen und Standards, die über die Koordinierungsstelle transparent zur Verfügung gestellt werden. Zudem stärkt die Initiative die Kooperation der forschenden Allgemeinmedizin sowohl auf Standortebene als auch netz- und sektorenübergreifend. Dies wird auch im BMBF gesehen. „Mit der von ihr geschaffenen Infrastruktur ist DESAM-ForNet auf einem guten Weg“, lobte Prof. Dr. Veronica von Messling, Leiterin der Abteilung Lebenswissenschaften im BMBF. Dort werde momentan die künftige Strategie der Gesundheitsforschung in Deutschland intensiv diskutiert, so von Messling. Generell sehe man dabei drei Zukunftsdimensionen: So solle die Gesundheitsforschung der Zukunft präventiv, personalisiert und dezentralisiert ausgerichtet sein. „Dazu brauchen wir passgenaue Forschungsinfrastrukturen“, so von Messling. Das Netzwerk der Forschungspraxen könne da ein wichtiger Baustein sein.