Die Herausforderungen, vor die demografischer Wandel und Fachkräftemangel die ambulante Versorgung in den kommenden Jahren stellen wird, sind nur mit besserer Digitalisierung, mehr Versorgungssteuerung und neuen Modellen interdisziplinärer Zusammenarbeit zu bezwingen.

Die fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen war eines der zentralen Themen der Herbsttagung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in Berlin. Neben den sich bietenden Chancen durch technologische Innovationen spielten dabei allerdings auch kritische Aspekte eine Rolle. Zwar sei mittel- bis langfristig auch aus Sicht der Akteure in der ambulanten Versorgung durchaus Nutzen von der Digitalisierung zu erwarten, sagte Dr. med. Sibylle Steiner, Vorstandsmitglied der KBV. Stand jetzt seien aber viele Prozesse nur teildigitalisiert. Zudem böten die bisherigen Anwendungen der Telematikinfrastruktur (TI) kaum direkten Nutzen für den Versorgungsalltag in den Praxen. Hinzu kämen technische Probleme: So habe es beispielsweise bei der Einführung des elektronischen Rezeptes (E-Rezept) insbesondere zu Beginn zu viele Ausfälle und daraus resultierende Zusatzbelastungen gegeben. Nicht zuletzt deswegen sei die kurzfristige „Digitalisierungsbegeisterung“ in den Praxen derzeit sehr gedämpft, betonte Steiner. Immerhin habe der Gesetzgeber aber offenbar daraus gelernt. Wenn die Politik nun die Durchgriffsrechte der gematik stärken und so für eine stabilere und störungsfreie TI-Umgebung sorgen wolle, sei dies von der KBV nur zu begrüßen.
Potenzial der ePA nutzen
Viel Potenzial sieht Steiner für die elektronische Patientenakte (ePA) – wenn sie technisch gut funktioniert. Hier blieben die Ergebnisse der Testphase zu Beginn des kommenden Jahres abzuwarten. Auch müsse den Patientinnen und Patienten mit Blick auf die Erwartungshaltung klar dargelegt werden, was die digitale Akte „am Anfang kann und was sie nicht kann“. Insbesondere die Zusammenführung der Kommunikationsströme aller Akteure in der Versorgung könne für Entlastung sorgen – was, wie Steiner betonte, ohnehin die Kernaufgabe der Digitalisierung im Gesundheitswesen sein sollte. Unbedingt notwendig sei es in diesem Zusammenhang allerdings, möglichst schnell alle Berufsgruppen und Versorgungs- und Pflegeeinrichtungen an die TI anzubinden. Erst dann könnten die ePA oder auch der neue Kommunikationsstandard KIM ihren vollen Nutzen entfalten.
Die bisherigen Digitalisierungserfahrungen ließen auch sie nur „verhalten optimistisch“ nach vorne blicken, sagte Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, in der Diskussion mit Steiner. Von der ePA erwarte sie aber deutliche Fortschritte. Der „Reset“ sowie die vorgesehene, und aus ihrer Sicht auch dringend notwendige, Pilotierung in Testregionen werde hoffentlich für eine weniger ruckelige Einführung als bei vorherigen TI-Anwendungen sorgen. Seitens der Krankenkassen werde man die Versicherten „breit informieren“, so Reimann. Einschränkend fügte sie hinzu, die Bemühungen dürften vermutlich nur einen Teil der Menschen erreichen – weshalb zum ePA-Start bei etlichen Patienten wohl noch kein tiefer gehendes Wissen vorausgesetzt werden sollte.
Das könnte jedoch aus Patientensicht nicht ausreichend sein, kritisierte Gerlinde Bendzuck, Beisitzerin im Vorstand der Deutschen Rheuma-Liga. „Die ePA ist aus unserer Sicht noch mit zu vielen Kinderkrankheiten behaftet, als dass man damit ein gutes Patientenmanagement betreiben könnte“, sagte sie. So seien die Bereiche Datenfreigabe und -management noch nicht ausreichend geregelt. Patientinnen und Patienten bräuchten mehr Möglichkeiten, selbstständig zu entscheiden, welche Ärztinnen und Ärzte welche Informationen zu Erkrankungen und Behandlungen wann sehen dürfen. Dr. med. Sandra Blumenthal, Vorstandsvorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Berlin und Brandenburg (BAD), teilte die Bedenken auch aus ärztlicher Sicht. Bei der ePA handele es sich um „eine verpflichtende Intervention ohne vorherige ausreichende Prüfung“.
Zuversichtlicher zeigte sich die Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK), Dr. phil. Bernadette Klapper. Die ePA könne in Zukunft als „virtuelles Analogum zu Primärversorgungszentren“ dienen, indem sie beispielsweise die fachübergreifende Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe spürbar erleichtert.
Mehr Kooperation und Delegation
Denn die Bedeutung interprofessioneller Zusammenarbeit und Delegation werde angesichts von Fachkräftemangel und demografischem Wandel in Zukunft stark zunehmen. Dafür müssten jetzt schon die entscheidenden Weichenstellungen erfolgen, mahnte Klapper: „Wir haben noch zehn bis 15 Jahre, bis die Babyboomer anfangen zu schwächeln. Diese Zeit müssen wir nutzen.“
Sie trete für multiprofessionelle Modelle ein, bei denen alle an der Versorgung eines Patienten beteiligten Berufsgruppen enger als bisher zusammenarbeiten. Das Gesundheitssystem sei so ausdifferenziert, dass es dringend mehr zusammenführende Elemente brauche. „Deshalb bin ich auch eher im Team Primärversorgungszentren“, sagte sie. Gerade im ländlichen Raum könnten diese ein zentraler Anlaufpunkt für die Bevölkerung und müssten auch nicht zwangsläufig ärztlich geleitet sein. „Wir müssen Modelle finden, bei denen wir flexibler Hand in Hand arbeiten“, forderte Klapper. Zudem müssten auch andere Berufsgruppen, vor allem Pflegende, mehr Durchführungsverantwortung erhalten. Sie würden beispielsweise schon heute im Rahmen der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) regelmäßig selbstständig Medikationsfehler erkennen, müssten dann aber „den Ärzten hinterherlaufen“.
Es brauche allerdings auch eine verlässlichere Finanzierung, um interprofessionelle Arbeit überhaupt erst zu ermöglichen, betonte die seit vergangenem Jahr niedergelassene Hausärztin Blumenthal: „Ich komme aus einer Generation, die durchaus im Team arbeiten will.“ So seien etwa Hausbesuche oder der Beginn von Anamnesen mit entsprechenden Weiterbildungen durchaus gut delegierbar. Auch gebe es sehr viele Praxen, die sich vorstellen könnten, mit Physician Assistants (PA) zu arbeiten. Damit sich solche neuen Berufsgruppen aber in der ambulanten Versorgung etablieren können, müssten aber entsprechende Mittel bereitgestellt werden können (Kasten). „Ich brauche einfach mehr finanzielle Ressourcen, um qualifiziertes Personal einzustellen und es so zu bezahlen, dass ich mich nicht schäme.“
Dr. phil. Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK)
Bessere Patientensteuerung
„Ich kenne aus 30 Jahren Erfahrungen keinen Patienten, der nur einer Fachrichtung zuzurechnen wäre“, erklärte die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), Dr. med. Doris Reinhardt. Allerdings sei es wichtiger, statt Doppelstrukturen bessere Rahmenbedingungen zu schaffen. Die hausärztliche Versorgung sei dabei als Klammer sehr wichtig, um die unterschiedlichen Berufsgruppen und Fachgebiete zusammenzuhalten.
Hausärztliche Primärarztmodelle seien schon allein deshalb notwendig, um fachärztliche Ressourcen freizumachen. Vorbehalte gegen die Einführung solcher Modelle seien unbegründet. Denn nicht nur zeige die Evidenz ihre Wirksamkeit. Angesichts des grassierenden Hausarztmangels gebe es ohnehin bereits eine indirekte Verpflichtung zu Primärarztmodellen – kaum ein Patient könne schließlich heute noch in kürzerer Zeit bei mehreren Praxen parallel Termine erhalten.
Zudem sollte sowohl auf Ärzte- als auch Patientenseite mehr Erwartungsmanagement betrieben werden. Es müsse Einigkeit herrschen, was wann wo passieren muss, forderte Reinhardt. Bendzuck betonte, es müsse zudem in der Bevölkerung die Akzeptanz der Tatsache ausgebaut werden, dass Gesundheitsversorgung eine begrenzte Ressource ist. Umso wichtiger sei es dann jedoch, eine gerechte Verteilung herzustellen und „eklatante Versorgungsungleichheiten besser zu nivellieren“. Dann sei auch die Bereitschaft, sich in strukturierte Programme wie die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) einzuschreiben, gegeben. Auch Reinhardt sprach sich dafür aus, auf die Haltung der Menschen einzuwirken. Es brauche wieder „eine Akzeptanz des Wartens“, die in den vergangenen Jahren verloren gegangen sei.
Bendzuck verwies außerdem auf die Notwendigkeit, Patienten besser über Versorgungswege aufzuklären. Ein wesentliches Problem sei nämlich die Fehlallokation im Gesundheitswesen – viele Patienten seien aufgrund von Nichtwissen und mangelhafter Informationsarchitektur fehlgesteuert.
Eine möglichst verpflichtende Patientensteuerung über integrierte Leitstellen sollte Kernelement der geplanten Notfallreform sein, war dann auch der Tenor eines Expertenpanels im Rahmen der KBV-Herbsttagung. Es sei „ganz wichtig“, Patientinnen und Patienten eine steuernde Ansprechstelle zu bieten, betonte Prof. Dr. med. Reinhard Busse, Gesundheitsökonom an der TU Berlin sowie Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung.
Derzeit wüssten diese oftmals schlichtweg nicht, welche Versorgungsebene jeweils angemessen sei. Das Motto „die Notaufnahmen sind immer da, wenn ich nicht weiß, wohin ich gehen kann, gehe ich dahin“ müsse aber ein Ende haben. „Ob man das so macht wie in anderen Ländern, dass es immer übers Telefon geht – darüber müssen wir uns verständigen“, so Busse.
Er ließ anklingen, dass dies aus seiner Sicht zumindest perspektivisch ein sinnvoller Ansatz sein könnte. Zunächst sei aber auch eine Doppelkombination aus Telefon(leitstelle) und Integrierten Notfallzentren (INZ) denkbar. Mehr Optionen für Patienten, eine Akut- beziehungsweise Notfallversorgung in Anspruch zu nehmen, seien mit Blick auf eine effektive Steuerung abzulehnen.
Eine telefonische Steuerung in die richtige Versorgungsebene bewertete auch Prof. Dr. med. Christian Wrede, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), als sinnvoll. Die Einbindung der Software SmED zur Ersteinschätzung des Versorgungsbedarfs über die 116117 stelle einen erheblichen Schritt in die richtige Richtung dar.
Dabei solle dann aber auch die Vermittlung eines konkreten Termins, wenn nötig, Teil der Leistung sein, um so Anreize für eine Nutzung der telefonischen Abklärung und Steuerung zu setzen. „Ich bin gegen Strafgebühren“, betonte Wrede. Voraussetzung dafür seien ambulante Strukturen, welche die gesteuerten Patienten zeitnah behandeln könnten – derzeit fänden die Menschen „nur relativ schwer Zugang zur haus- und fachärztlichen Versorgung“.
Ressourcen effektiv nutzen
Prof. Dr. med. Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), sagte dazu, die ambulanten Versorgungsangebote seien durchaus, trotz zu verzeichnender Probleme, „noch ausreichend“. Bei vielen Patienten spiele aber ein 24/7-Anspruchsdenken und eine gewisse Bequemlichkeit eine Rolle. Dies sorge für eine „fehlgeleitete Ressourcennutzung“.
Auch insofern mache eine telefonische Einsteuerung in die jeweils passende Versorgungsebene Sinn, so Scherer. Er forderte in diesem Zusammenhang, dass bereits erhobene Patientendaten künftig digital durch die gesamte Versorgungskette durchgereicht werden können und nicht wie bislang mehrfach erhoben werden müssen.